Nicola Renfer: «Poesie – die Therapie»

Sprache als Weg zurück ins Leben

Ein Rheumatologe gab Nicola Renfer die Aufgabe, bis zur nächsten Sprechstunde ein Gedicht zu schreiben. Sie hat die Aufgabe gelöst – und dabei ihr Mittel gefunden, das Leiden am Post-Covid-Syndrom zu ertragen.

Schon vor der Covid-19-Erkrankung wusste Nicola Renfer, wie es ist, mit körperlichen Schmerzen zu leben, unter anderem mit Migräneanfällen. Aber sie schaffte es, ihren Beruf als Lehrerin auszuüben, Haushalt und Garten zu pflegen, Sport zu treiben, Klavier zu spielen, Mutter und Ehefrau zu sein. Die Covid-19-Infektion im Januar 2022 katapultierte die Schmerzen auf ein neues Level. Nichts ging mehr. Und es wurde nicht besser. Renfer ist seither vom Post-Covid-Syndrom betroffen.

Unter den vielen Ärzt*innen, die Renfer konsultierte, war ein Rheumatologe in Liestal. Er fokussierte nicht nur auf die Symptome, sondern nahm sein Gegenüber ganzheitlich wahr. Im August 2022 sagte er zu seiner Patientin: «Im Moment brauchen Sie keine weitere Therapie. Fangen Sie an, Gedichte zu schreiben.»

Mit seiner Intuition hat der Arzt eine Quelle erschlossen, die seither sprudelt. Es vergeht kein Tag, an dem Renfer nicht zum Bleistift greift und mit atemberaubender Leichtigkeit Poesie erschafft. Es sind schon über 1'000 Texte entstanden. Die Gedichte faszinieren, berühren, auch dann, wenn man ein vergleichbares Leiden nicht aus eigener Erfahrung kennt. Das Schreiben kann die Schmerzen nicht beseitigen, aber es ist für Nicola Renfer eine Ablenkung und ein Weg zurück zu Glücksgefühlen.

Die vielen positiven Rückmeldungen haben Renfer dazu ermutigt, die Poesie nicht für sich zu behalten, sondern mit der Öffentlichkeit zu teilen. Inzwischen hat sie auf Instagram unter dem Namen «die_architextin» weit über 1'000 Follower.

Das REHAB Basel versorgt auch Menschen mit dem Post-Covid-Syndrom. Zum Angebot gehören die Post-Covid-Sprechstunde, in welcher Nicola Renfer eine wertvolle Unterstützung findet, sowie die regelmässige Gesprächsrunde für Post-Covid-Betroffene (Stammtisch). Nicola Renfer kam auf die Idee, ihr poetisches Schaffen der Klinik anzubieten. Ihre Initiative stiess auf offene Ohren.

Die zehn Plakatrahmen in der Eingangshalle des REHAB werden für ein halbes Jahr mit kurzen Gedichten von Nicola Renfer bestückt. Wer daran vorbeikommt, Patient*innen, Angehörige und Mitarbeitende, wird zu einem Gedanken oder einem Gefühl animiert – zu einer kurzen poetischen Bereicherung.

Während der Vorbereitung der Plakatausstellung sprachen wir mit Nicola Renfer.

Frau Renfer, wie geht es Ihnen heute?

Gestern Abend hatte ich starke Schmerzen. Ich konnte aber noch einigermassen schlafen. Innerlich im Herzen ändert sich nichts. Da geht es mir wirklich gut. Die Schmerzen sind immer da, aber ich habe sie deutlich besser im Griff als vor einem Jahr. Die Ausschläge, die Peaks sind weniger geworden.

Bei den ersten Texten, die ich geschrieben habe, war der Schmerz noch ganz aggressiv, hat von hinten zugepackt. Jetzt würde ich sagen, der Schmerz sitzt nebenan, oder schaut mir ins Gesicht. Man lernt sich kennen und lernt, miteinander zu leben.

Nicola Renfer schreibt am liebsten mit Bleistift auf Papier. Die verbrauchten Stifte landen in diesem Gefäss.

Lyrik als Medizin, würden Sie dieser Formulierung zustimmen?

Ja, aber «Poesie, die Therapie», klingt besser. [lacht] Es ist die wichtigste Medizin, die ich habe. Sie ist immer bei mir, immer verfügbar. Sie ist vor allem da, wenn ich die Augen schliesse. Ich muss nicht auf Freunde oder meinen Mann zurückgreifen. Die Poesie lenkt ab. Und sie ist wie der Spiegel von mir.

Die Poesie gibt mir Zuversicht. Sie ist für mich ein neuer Weg, und ich bin dabei, mich darauf einzurichten. Ich kann nicht mehr so wie früher. Ich habe 20 Jahre unterrichtet, ständig gearbeitet, mich auf die Lektionen vorbereitet, immer zack zack zack, sehr strukturiert und zielstrebig. Das funktioniert jetzt nicht mehr. Ich arbeite dann, wenn es geht. Diese neue Situation ist eine Herausforderung. Aber ich bleibe unbedingt auf diesem Weg. Auf ihm kann ich wachsen.

Die Alternative wäre, dass ich mir sage, ich bin krank, liege im Bett, ziehe die Decke über mich und gehe nicht mehr raus. Dem zu widerstehen, muss man lernen: trotzdem den Mut haben, rauszugehen, etwas zu unternehmen, versuchen zu leben, die Partnerschaft zu pflegen.

Haben Sie beim Schreiben ein Publikum im Hinterkopf?

Ich schreibe für mich. Es hilft mir sehr, dass ich die Poesie für mich habe. Aber es hilft mir auch, wenn ich merke, andere können meine Poesie schätzen. Wenn ich jemandem mit einem Gedicht ein Lächeln, ein Funkeln in die Augen zaubern kann, ist das für mich sehr wertvoll. Auf Instagram teile ich kurze Texte und habe da schon eine breite Leserschaft.

Poesie kommt ja ganz anders an, als wenn ich einfach erzählen würde, was passiert ist und wie es mir geht. Das Lyrische, das Poetische geht ans Herz, und es klingt bei allen Menschen etwas an. Alle sind in ihrer eigenen Situation, nicht in der gleichen wie ich, aber irgendwo fühlen sich alle angesprochen, sehen sich selber darin.

Nicola Renfer spricht ihr Gedicht «worte wie treibgut».

Weitere Gedichte zum Hören finden Sie hier.

Wie erleben Sie den kreativen Prozess? Entstehen die Texte rein aus einer Intuition, oder verfolgen Sie manchmal auch so etwas wie ein Konzept?

Nein, es gibt keine Konzepte. Manchmal bin ich selber erstaunt, wie die Poesie einfach in mir geschieht. Als der Arzt zu mir sagte, ich solle in die nächste Sprechstunde ein Gedicht mitbringen, sass ich zuhause am Tisch und fand: Okay, er hat das gesagt, also mache ich es. Das war noch mein altes Ich. Aufgaben werden gelöst. Es kam mir aber seltsam vor, ein Gedicht zu schreiben. Und dann ist es von der ersten Zeile an geflossen. So kannte ich mich gar nicht. Ich bin eigentlich sehr strukturiert. Aber die Texte brechen aus mir heraus, in allen möglichen Momenten.

Haben Sie ein Beispiel?

Vor einigen Tagen war ich unterwegs, es war heiss, und plötzlich entstand ein Wintergedicht. Oder ich sehe ein Wort. Gestern sah ich das Wort «baumeln», und ich konnte gleich einen Text aufschreiben. Ich sehe die einzelnen Buchstaben, wie man sie umstellen kann, habe Assoziationen dazu … es macht mich selber sprachlos, wie fast aus dem Nichts so viel entstehen kann.

Sehr viele meiner Texte, auch wenn sie fünf Minuten dauern, kann ich auswendig vortragen. Ich muss sie nicht lernen. Sie sind abgespeichert und ich kann darauf zugreifen.

Ich denke, dass ich aus meinem früheren Alltag herausgeworfen wurde, hat das erst ermöglicht. Im Berufsleben hätte ich nie diesen Raum gehabt, diese Musse. So versuche ich, das Positive zu sehen. Ich darf das erleben.

Nicola Renfer vor einem Plakat mit ihrer Poesie.

Was bedeutet Ihnen die Plakatausstellung im REHAB?

Es ist für mich wie ein Sechser im Lotto. Ich freue mich sehr darüber. Ich habe im REHAB gleich gespürt, die Klinik ist anders als viele andere Arztpraxen oder Spitäler. Es herrscht ein anderer Zugang zu den Menschen. Ich hatte Herrn Bachmann, dem Direktor, geschrieben und erhielt innerhalb eines Tages die Antwort, ich solle doch mal vorbeikommen. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist kein Zufall, dass mir gerade das REHAB diese Ausstellung ermöglicht. Ich bin sehr gespannt, wie sie ankommt und was sie auslöst.

Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg und Freude an der Poesie!

In der Eingangshalle des REHAB Basel hängen noch bis Ende März 2025 zehn Plakate mit kurzen Gedichten von Nicola Renfer.

© REHAB Basel, rehab.ch, September 2024

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